Von der „Kommende“ zu „Was braucht die Region?“

Historie: Von der „Kommende“ zu „Was braucht die Region?“
Lebendige Geschichte auch von ackpa seit 1985

Ingrid Munk, Sylvia Lorenz, Bettina Wilms

Wer einen gedruckten Hinweis auf die Kommende–Tagung vor sich sah und nicht bereits gehört hatte, wovon die Rede war, ging oft davon aus, es handele sich um die Ankündigung einer kommenden Tagung. Die Betonung lag jedoch auf der 2. Silbe, also Komménde–Tagung. Wie das? Die Bezeichnung geht auf die „Kommende“ zurück, den ersten Tagungsort in Dortmund-Brakel, ehemals Sitz des Deutschen Ritterordens und heutzutage eine Bildungseinrichtung, wo die halbjährlichen Treffen dieses damals inhaltstiftenden Austauschforums ab 1985 stattfanden.

Die Differenz zwischen Gesprochenen und Geschriebenen begleitet die Kommende–Tagung: Die Tageseinladungen von damals sind nicht archiviert; das, was die Kommende–Tagung ist, findet sich zumindest für die weiter zurückliegenden Jahre vor der Jahrtausendwende nicht in Dokumenten und schriftlichen Veröffentlichungen, sondern als „oral history“: Diejenigen, die dabei waren, können am besten erzählen, wer da war und was vorgetragen und diskutiert wurde.

In der Kommende trafen sich seit 1985 auf Einladung von Dr. Hanns Philipzen, Chefarzt der Psychiatrischen Abteilung in Bad Driburg, die Leiter von Psychiatrischen Kliniken an Allgemeinkrankenhäuser mit Pflichtversorgung für einen definierten psychiatrischen Sektor. Die Tagungen beschäftigen sich insbesondere mit der Frage: Was braucht der Sektor?
Die stationäre psychiatrische Versorgung in wohnortfernen Großkrankenhäusern mit Langzeitstationen war nach der Psychiatrie-Enquête von 1975 in Frage gestellt: Psychiatrische Abteilungen am Allgemeinkrankenhaus traten zunehmend mit dem Anspruch an, die Pflicht- und Vollversorgung eines Sektors zu übernehmen. Um nichts weniger ging es den Gründervätern des Arbeitskreises: Die Verzichtbarkeit von Großkrankenhäusern praktisch zu beweisen, indem sie die Vollversorgung für einen definierten Sektor übernahmen und keine Patienten in Großkrankenhäuser verlegten. Der Beweis ist mittlerweile erbracht: Psychiatrische Abteilungen gewährleisten heutzutage selbstverständlich die Vollversorgung eines Sektors.

Die Kommende war pragmatisch, solidarisch, parteiisch und engagiert. Die Mitglieder verfolgten ihren Weg konsequent und überzeugt auch gegen Widerstand. Sie waren damals nur wenige, ca. 25 im Jahr 1986 in der Bundesrepublik.

Daneben und im weiteren Verlauf steht die Kommende für gemeindepsychiatrische Behandlungs- und Versorgungsprinzipien, über deren Realisierung sich die Klinikleiter verständigten und diskutierten: Psychiatrie mit offenen Türen; Gemeindepsychiatrie in enger Vernetzung mit der Eingliederungshilfe und dem gemeindepsychiatrischen Verbund, dessen Formen und Inhalte damals erst, infolge der Enthospitalisierung, entwickelt wurden; Sozialpsychiatrie im eigentlichen Sinne, nämlich mit Einbeziehung der Angehörigen und unter Berücksichtigung von Aspekten des Wohnens, Arbeitens und der Freizeit. Die Kommende suchte nach Wegen zur Umsetzung dieser Inhalte in die Praxis und ihre Mitglieder gestalteten sie vor Ort aktiv mit. Wenn ein Chefarzt der Krankenhausverwaltung einen Vorschlag für ein neues Versorgungsprojekt machte und die zweifelnde Frage zurückkam, ob so etwas denn bereits praktisch erprobt sei, konnte er nicht selten auf ein anderes Kommende-Mitglied verweisen – in den damaligen Post-Psychiatrie-Reform-Zeiten ein unschätzbares Plus für gemeindepsychiatrische Projekte, die noch zehn Jahre zuvor undenkbar waren.

Die Gründung von ackpa im Jahr 1983 verfolgte demgegenüber zunächst andere Ziele: Einerseits die politische Speerspitze der Abteilungspsychiatrie zu bilden, andererseits Abteilungen, die noch keine Vollversorgung wahrnahmen, eine Plattform zu bieten – mit dem Ziel, die Leiter letztendlich von der Pflichtversorgung zu überzeugen.

Hanns Philipzen übergab die Leitung und Moderation des Kommende–Arbeitskreises im Jahr 1996/97 an Dr. Thomas Schulte, Chefarzt der Psychiatrischen Abteilung in Lauterbach. Auf ihn gingen zwei maßgebliche Neuerungen zurück: Der Umzug der Kommende-Tagung nach Kassel ins Ludwig-Noll-Krankenhaus, um den Mitgliedern aus den neuen Bundesländern die Anreise zu verkürzen.
Die zweite Idee, die Dr. Schulte strukturell umsetzte, war die Annäherung an ackpa und die Verbindung der Tagungen von Kommende und ackpa.

Die psychiatriepolitischen Themen wurden bei der Kommende-Tagung im Rahmen einer „Aktuellen Stunde“ zu Sitzungsbeginn abgehandelt. Diese Stunde reichte zunehmend weniger aus. Um sowohl den psychiatriepolitischen wie den Projekt-Themen gerecht zu werden, lag es nahe, die Tagungen von Kommende und ackpa zusammenzuführen.
Neben inhaltlichen Gründen – mittlerweile bestand kein Zweifel mehr: die Psychiatrischen Abteilungen wirkten neben den Großkliniken gleichgewichtig und waren in der Lage, die Versorgungsverpflichtung für ihre Region wahrzunehmen – gab es dafür pragmatische Gründe: Die Tagungsteilnehmer kamen aus demselben Personenkreis der Chefärzte psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern. So fand seit 2001 die Kommende-Tagung mit ackpa im Frühjahr, die ACKPA-Tagung mit Kommende im Herbst statt; ab 2015 in umgekehrter Reihenfolge.

Dr. Schulte übergab die Moderation und Leitung des Kommende–Arbeitskreises im Jahr 2005 an Ingrid Munk. Die Kommende–Idee des praxisnahen, pragmatischen Austausches und die etwas anarchische, aber hoch wirksame Vernetzung von Ideen und Projekten lebte weiter. Die „Schätze“ an Erfahrung und Wissen, die sich im Alltag einer jeden Psychiatrischen Klinik an einem Allgemeinkrankenhaus ansammelten, wurden miteinander geteilt. Powerpoint-Präsentationen waren und sind bis heute nicht Voraussetzung von Beiträgen in diesem Forum, auch wenn sie zunehmend von den meisten Vortragenden als praktische Unterstützung genutzt werden. Die vorgetragenen Daten sind nicht unbedingt auf Signifikanz geprüft. Das Berichten und Erzählen inclusive des Austausches nicht ganz „fertiger“ Ideen hat Vorrang.

Die Kommende traf sich unter diesem Namen bis in das Jahr 2023: Dieser kurze geschichtliche Rückblick verdeutlicht, dass Psychiatriegeschichte jeden Moment, an vielen Orten, durch viele Menschen, für viele Menschen gemacht wird. In diesem Prozess der Entwicklung von ackpa hat sich die „Kommende“ als Austauschforum im Arbeitskreis auch im Blick auf moderne Versorgungserfordernisse zu unserem heutigen Austauschforum „gemausert“: „Was braucht die Region?“ bezieht sich auf die Übernahme regionaler Verantwortung aus der Behandlung mit den Mitteln des Krankenhauses heraus. Dieser feste Bestandteil von ackpa-Jahrestagungen bietet einen wertschätzenden und offenen kollegialen Austausch, der über alltagspraktische Lösungen für Therapieangebote bis hin zur Versorgungsentwicklung vor Ort im SGB V und darüber hinaus reichen kann. Damit führt er das, was in der „Kommende“ begann, fort, bewegt sich im vielfältigen und komplexen Versorgungssystem von Psychiatrie und Psychotherapie und öffnet den Blick für die Expertise und die Schnittstellen in der Region: Expertinnen aus Erfahrung, Vertragsärztinnen und -psychotherapeutinnen wie auch Akteure der Eingliederungshilfe und viele andere.

 

März 2024